Die Ansprüche des Konsumenten in den letzten Jahren sind explodiert. Das Einkaufen muss mühelos (convenient) sein und darf keine Zeitverschwendung darstellen. Die Kaufentscheidung wird immer mehr ins Web verlagert, das zeigen sinkende Frequenzzahlen in den Einkaufsstraßen und Einkaufszentren.
Für uns gefühlt ein „trauriges Bild“. Es wird weniger gebummelt, um sich inspirieren zu lassen. „Gemma auf die Mahü“ ist passé geworden. Die Umsätze im stationären Handel sind damit stark unter Druck – unterschiedlich je nach digitalem Reifegrad einer Handelsbranche – sie korrelieren nicht linear mit den sinkenden Frequenzzahlen.
Die stationären „Conversion Rates“ (also das Verhältnis: Besucher zu Käufer) sind in den letzten Jahren deutlich angestiegen, weil die Konsumenten viel genauer wissen, was sie kaufen wollen und am POS oft nur mehr eine Bestätigung ihrer online getroffenen Kaufentscheidung wollen (ROPO-Kaufverhalten, = Research online purchase offline).
Vom „Haben wollen“
Die größte Barriere für Konsumenten, stationäre Läden aufzusuchen, ist die Unsicherheit, ob die gewünschte Ware dort physisch vor Ort verfügbar sein wird. Kunden lassen sich auch ungern von Verkäufern auf einen alternativen Artikel umberaten. Wenn eine intensive Online Recherche ein bestimmtes Produkt als Kaufwunsch ergeben hat, dann ist das unumstößlich.
Das Motiv zum stationären Kauf ist dann häufig das „sofort haben wollen“ und „instant gratification“.
Damit ist es noch wichtiger, dass Händler online die stationäre Verfügbarkeit von Artikeln anzeigen, am besten für das gesamte Sortiment.
Das aber stellt eine der großen, systemischen Herausforderungen und Content-Herausforderungen für Retailer dar. Unterschiedlichste EDV Systeme und die Warenwirtschaft müssten reibungslos miteinander kommunizieren, um diese – aus Kundensicht banale – Information fehlerfrei auf der Unternehmenswebsite zu liefern.
Der Moment der Wahrheit
Eine zentrale Funktion des Handels ist seit jeher die Zusammenstellung von Sortimenten für die Konsumenten. Das bringt naturgemäß eine Vorauswahl mit sich. Online ist jeder Artikel in einem Warenbereich verfügbar, stationär nur ein Teil, optimalerweise ein „best-of“.
Manche sehen dies sogar als Bevormundung.
Wenn die Logistik der Onlinehändler noch kürzer und reibungsloser funktioniert, wird diese „instant gratification“ auch online immer realistischer.
Die Dopaminausschüttung im Moment des online Kaufs ist vergleichbar mit dem Moment der physischen Lieferung. Bei der Lieferung ist dem Kunden weniger wichtig, dass sie möglichst rasch erfolgt (das bedingt heute teilweise noch saftige Expresszuschläge), sondern dass das Lieferzeitfenster knapp und exakt gewählt werden kann.
Wie ist´s anderorts?
Ein konkretes Beispiel zu den Inhalten der Studie (Umgehung des Handels) sind Internetstars in China: Sie verkaufen ihren Stil online mit einer eigenen Modekollektion. Früher haben Unternehmen diese Menschen eingestellt und sie als Designer beschäftigt. Heute kaufen diese Internet-Unternehmer die benötigten Dienstleistungen (Textilfabrik, Handelsplattform, Payment, Logistik) zu.
Die Verhältnisse haben sich hier umgekehrt. Sie kommunizieren derartig eng mit ihren Fans, dass sie ihre Produkte zum exakt richtigen Zeitpunkt in der exakt richtigen Größe und Menge herstellen können, ohne Lagerkosten und ohne Überproduktion.
Sie stellen online eine Kollektion vor und wissen am selben Abend wie viele ihrer Fans welche Kleidungsstücke haben wollen, und lassen diese punktgenau produzieren und zustellen. Gut für Umwelt und KonsumentInnen, schlecht für nicht optimal aufgestellte Mitbewerber.
Diese Logik wird sich in vielen Bereichen durchsetzen und die Gesellschaft massiv verändern. In einem derartigen Setting hat der Retail, wie wir ihn kennen, keinen Platz mehr.